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„Sucht ist eine Erkrankung, keine schlechte Angewohnheit“

In diesem Jahr feiert die Ambulante Suchthilfe (ASH) von Caritas und Diakonie ihr 20-jähriges Bestehen. In dieser Zeit hat die ASH insgesamt über 289.000 Menschen erreicht. Mit Birte Holm, Bereichsleitung Integration und Rehabilitation, sprach Constanze Baumgart über zwei Jahrzehnte Suchtberatung, das Stigma, das suchtkranken Menschen immer noch anhaftet und warum kompetente Suchtberatung die gesellschaftlichen Folgekosten von Suchterkrankungen senkt.
Panel_Fachtag
Datum:
2. Okt. 2025
Von:
Verena Weiden

Frau Holm, wie kam es dazu, dass Bonner Caritas und Diakonisches Werk Bonn und Region ihre Suchtberatungen zusammengeschlossen haben? 

Bis 2005 hatten die beiden Verbände jeweils eigene Suchtberatungen.  Das bot eine potenzielle Konkurrenzsituation, in der niemand gewinnt. Der Zusammenschluss der beiden Suchtberatungen war vor diesem Hintergrund ein sehr sinnvoller Schritt, der riesige Vorteile barg: Wir haben damit eine sehr viel größere Vernetzung in die Einrichtungen beider Träger und damit bessere Netzwerkverbindungen. Vertreten durch zwei Träger ist die Stimme der Suchthilfe in der Stadt besser hörbar – wir sind präsenter. Vor allem aber: Wir erreichen viel mehr Menschen mit einer viel höheren Wirkkraft.

Welche Änderungen sehen Sie über die Jahrzehnte in der Arbeit der ASH?

Wir sehen, dass die Problemlagen unserer Klient*innen insgesamt komplexer geworden sind. Mischkonsum ist häufiger und ebenso werden häufiger Begleitdiagnosen wie Depression, Angststörungen oder Psychosen diagnostiziert. Die Zahl der Menschen, die aufgrund von Cannabis-Konsum in unsere Beratung kommen, steigt kontinuierlich.

Auch das Thema Medienkonsum ist ein immer öfter angesprochenes Thema, ebenso wie die Frage, ab wann man in diesem Zusammenhang von einer Sucht spricht. Dieses Phänomen wird als „Internetnutzungsstörung“ bezeichnet. Diese umfasst unter anderem Social-Media-Nutzung, Glücksspiele, Rollenspiele und auch Pornographie-Nutzungsstörung.

Während die Teil-Legalisierung von Cannabis unsere Beratungszahlen bei Erwachsenen nicht veränderte, hat sie auf die Beratung von Jugendlichen einen erheblichen Einfluss: Bis zur Teil-Legalisierung 2024 hatten wir in unserer Beratungsstelle update (LINK) pro Jahr etwa sechs Gruppen mit im Schnitt acht Jugendlichen. Nun haben wir keine Gruppen mehr und nur noch sehr geringe Einzelberatungen. Hintergrund ist, dass es aufgrund der geänderten rechtlichen Lage keine Zuweisungen mehr gibt – und eher selten erkennen Jugendliche selbst einen Beratungsbedarf für sich.

Die Lücke, die durch die fehlenden Cannabis-Konsumenten in update hätte entstehen können, wurde aber übergangslos von den Anfragen zum Umgang mit Medien gefüllt.

Das ASH-Team hat den 20. Geburtstag mit einem hochkarätig besetzten Jubiläumsfachtag unter dem Titel „Sucht in Sicht – neue Wege gehen und Stigmata abbauen“ gefeiert. Zwei Themen haben Sie dort in den Fokus gestellt. Welche? 

Ein Thema geht bereits aus dem Titel hervor: Das Stigma, das suchtkranken Menschen anhaftet, hat massive negative Auswirkungen. Dazu gehört, dass Betroffene aus Scham erst sehr spät überhaupt Hilfe suchen. Dabei ist es bei Sucht wie bei anderen Erkrankungen auch: Je früher man gegensteuert, desto geringer sind die Folgen. Die Stigmatisierung führt zu kränkeren Menschen und höheren Kosten für die Gesellschaft. 

Wie erklärt sich dieses Stigma eigentlich?

Eine Abhängigkeit hat heute in der Gesellschaft noch vielfach die Aura einer schlechten Angewohnheit, einer Schwäche. So, als würde es reichen zu sagen: „Jetzt hör doch einfach mal damit auf.“ Das wäre anders, würde man Sucht in der Breite der Gesellschaft als das begreifen, was es ist: eine Erkrankung. Dann könnte das Umfeld – Angehörige, Freunde oder Kolleg*innen ebenso wie Ärzt*innen – das viel leichter ansprechen. Menschen könnten viel früher Unterstützung wahrnehmen, und man könnte viel mehr Risiken verhindern oder abfedern. Unsere Forderung: Wenn wir von Sucht sprechen, müssen wir von einer Erkrankung sprechen. Und hierfür tut gesamtgesellschaftliche Aufklärung not.

Und das zweite Thema?

Das ist der so genannte Social return on investment: Kompetente Suchtberatung senkt die gesellschaftlichen Folgekosten von Suchterkrankungen. Die Unternehmensberatung xit hat errechnet, dass ein Euro Investition in Suchtberatung der Gesellschaft 17 Euro spart. Diese Summe könnte übrigens noch höher ausfallen, gelänge es, das Stigma „Sucht“ zu minimieren. Die Sorge ist, dass es gesellschaftlichen oder politischen Druck geben könnte, Leistungen in diesem Bereich zu kürzen. Warum für jemand zahlen, der es einfach nur mal sein lassen müsste? Es gibt jedoch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für diese Erkrankung, die nebenbei bemerkt in Teilen auch gesellschaftliche Ursachen hat.

Ihr Fazit?

Kompetente Suchtberatung ist extrem effektiv. Die Arbeit der Therapeut*innen, der Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen kann Ausschlusskriterien und Eskalationsrisiken abmildern oder gar verhindern: etwa Störungen sozialer Beziehungen, Jobverlust, Wohnungsverlust, langfristige Erkrankungen oder ein Abrutschen in die Kriminalität. Wir als ASH können hier sehr wirksam etwas innerhalb der Stadt Bonn und für die Stadt tun, indem wir das Abrutschen suchtkranker Menschen mindestens auffangen, oft sogar gänzlich verhindern können.